Murambi

31. Januar 2009

Ich war die letzten zwei Wochen in Ruanda, zuerst für ein Zwischenseminar und danach als Urlaub. Eine Sache geht mir seit dem einfach nicht mehr aus dem Kopf: Murambi

Wir sind in Gikongoro und laufen ca. eine halbe Stunde zu Fuß über eine Piste. Dann sehen wir schon von weitem ein eingezäuntes Gelände und ein riesiges, neues Gebäude, auf einem Hügel, mitten im nirgendwo. Wir nähern uns und lesen das Schild: „Murambi Genocid Memorial Center“.
Vor dem Gebäude kommt uns ein Junge entgegen mit MP3-Player in der Hand und Ohrstöpseln im Ohr. Er deutet uns an, dass er uns herumführen will, er spricht kaum Englisch, kein Französisch. Wir folgen ihm um das Gebäude herum. Rechts lassen wir irgendetwas liegen, dass aussieht wie große Grabplatten. Doch der Junge läuft unbeirrt weiter. Hinter dem großen Gebäude stehen dutzende lange Gebäude, es erinnert ein bisschen an eine Kaserne, doch wir wissen, dass es früher einmal eine technische Schule war. Wir werden zum ersten Gebäude geführt und mir steigt ein süßlicher Geruch in die Nase. Der Junge öffnet die erste Tür: Leichen. Ausgestellt auf Pritschen. Weiße, eingekalkte Leichen. Der ganze Raum ist voll. Ehr hingeworfen als aufgebahrt. Jetzt wird mir auch klar was hier so süßlich riecht: Verwesungsgestank. In dem Raum ist er kaum auszuhalten. Mir wird schlecht. Ich gehe raus. Der Junge öffnet uns schon die nächste Tür: Leichen. Mir fehlen die Worte. Die nächste Tür: Frauenleichen. Ich bekomme weiche Knie. Die nächste: Kinderleichen. Man sieht wie die Schädel von Macheten zertrümmert wurden. Er will schon die nächste Tür öffnen, doch uns reicht es. Wir müssen nicht fragen, was dahinter zu sehen wäre.
Dann kommt von irgendwoher eine Frau. Sie spricht gebrochenes Französisch und erzählt ein bisschen etwas: 1994, während des Genozids in Ruanda, haben hier Tutsis zuflucht gesucht. Hier auf diesem Schulgelände. Insgesamt über 50.000. Doch dann griff eine Hutu-Truppe an: 50.000 Tote. Hier auf diesem Hügel. Sie überlebte, ihre Kinder und ihr Mann starben. Jetzt ist sie jeden Tag hier. Gibt Führungen. Tag für Tag. Doch meistens schweigt sie. Was sollte sie auch sagen? Wir gehen weiter, entlang an dutzenden Gebäuden mit verschlossenen Türen. Ich wage nicht zu fragen, was sich dahinter befindet, doch sie erzählt es auch so: 5.000 Tote liegen aufgebahrt in diesen ganzen Räumen, 45.000 in Massengräbern auf dem Gelände. Wir laufen weiter. Über dem ganzen Gelände hängt Verwesungsgestank, ich will gar nicht mehr einatmen. Wir kommen zu einer kleinen Halle. Ein Regal steht an der Wand. Mit Kleidung vollgestopft, alles dreckig und man kann die Blutspuren noch sehen. Wir laufen durch die Halle, auf der anderen Seite wieder hinaus. Dann sehen wir das erste Schild, das irgendetwas erklärt, denken wir zumindest. Wir nähern uns und zu lesen ist: „Hier stand die Französische Fahne“. Wir laufen weiter und sehen das nächste auf einer Wiese stehen: „Hier spielten die französischen Soldaten Volleyball“. 15m dahinter das nächste Schild: „Massengrab“. Wir laufen weiter und sehen noch andere Schilder: „Massengrab“. Die einzige Beschreibung auf dem ganzen Gelände. Wir gehen zurück zum neuen Gebäude, die Betonmischer und andere Arbeitsgeräte stehen noch rum, alt, verrostet und eingewachsen. Anscheinend stört es niemanden. Neben dem Gebäude eine Grube und noch mal ein Schild: „Massengrab“. Wir betreten das Gebäude und sehen Wegweiser: „Ausstellung“, „Buchladen“, „Tagungsraum“. Alles geschlossen. Wann denn die Ausstellung eröffnet wird? – Niemand weiß es.
Später erfahre ich, dass die Ausstellung noch niemand gesehen hat, obwohl sie eigentlich fertig ist. Aus politischen Gründen. Werden zu viele Namen genannt, die noch aktuell sind? Keiner weiß es. Auf dem ganzen Gelände gibt es also nicht ein erklärendes Wort, über das Massaker, das sich hier vollzogen hat. Nicht ein Wort über den Genozid der in Ruanda stattgefunden hat. Aber 50.000 Tote. Eine würdige Gedenkstätte für 50.000 Tote?
Wir verlassen das Gebäude, laufen ein paar Meter und müssen uns erst einmal hinsetzen. Einfach gehen ist nicht möglich. Wir schweigen uns gegenseitig an. Was kann man da noch sagen? Die Frau, die uns herumgeführt hat kommt dazu. Sie schweigt mit uns. Minuten der Stille. Wir stehen bedrückt auf, verlassen das Gelände, erschrocken, geschockt und wütend. Den ganzen Heimweg schweigen wir. Sie bleibt hier, bei ihrem Mann und ihren Kindern. Wahrscheinlich hat sie keine andere Möglichkeit.

Einer von vielen Orten des Genozids 1994: ca. eine Million Tote in 100 Tagen.
Eine würdige Gedenkstätte?